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Eintrag vom 12.12.2016

"Slow Food Wurzeltour" zu Chiemgaukorn!

11.12.2006 - Die Veranstaltungsreihe "Slow Food Wurzeltour" führte am internationalen Aktionstag von Slow Food an den Ursprung fast aller Lebensmittel: den fruchtbaren Boden. Auf einem Bio-Hof im oberbayerischen Chiemgau erfuhren die Teilnehmer, wie er nachhaltig bewirtschaftet werden kann und welche glückliche und schmackhafte Rolle die Linse dabei spielt.

Linsen aus Deutschland sind eine Rarität. Der Grund dafür liegt in verschiedenen Schwierigkeiten beim Anbau der Kulturpflanze von der Aussaat bis zur Ernte. Einer der wenigen deutschen Bio-Landwirte, der mit der Leguminose Linse als Partnerin in einem bodenschonenden Fruchtfolgensystem arbeitet, ist Diplom-Agraringenieur Stefan Schmutz im oberbayerischen Chiemgau. Slow Food Deutschland besuchte ihn gestern auf seinem Hof in der Veranstaltungsreihe „Slow Food Wurzeltour“, um im Internationalen UN-Jahr der Hülsenfrüchte am Ort des Ursprungs des Lebensmittels Linse mehr zu erfahren. Anlass war der internationale Aktionstag von Slow Food, der Terra Madre Tag, am 10. Dezember.

Fruchtbarer Boden ist lebenswichtig.

Weit über 90 Prozent aller Nahrungsmittel kommen aus dem Boden. In einer Hand voll Ackerkrume leben mehr Mikroorganismen als Menschen auf der Erde. Monokulturen, Mineraldünger, Ackergifte und intensive Bodenbearbeitung können dieses Leben stark beeinträchtigen. Millionen Hektar fruchtbarer Boden gehen jedes Jahr durch Intensivlandwirtschaft verloren. Ein zentraler Aspekt der Bio-Landwirtschaft ist die Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit durch andere Anbausysteme als die der konventionellen und industrialisierten Landwirtschaft.

Rupert Ebner, Mitglied im Vorstand von Slow Food Deutschland e. V. und Referent für Gesundheit, Klimaschutz und Umwelt der Stadt Ingolstadt, betonte, dass die Ressource Boden in der Arbeit von Slow Food Deutschland eine zentrale Rolle spielt: „Vor einem Jahr haben wir das Schulprojekt 'Boden Begreifen' ins Leben gerufen. Es gedeiht wie eine Pflanze auf fruchtbarem Boden. Inzwischen haben wir mehr als 800 Schülern in 15 Schulen in Berlin, Potsdam und München das Thema Bodenfruchtbarkeit näher bringen können und dank eines bayerischen Sponsors, der Öko-Brauerei Neumarkter Lammsbräu, wird das Projekt noch weiter wachsen können.“

Bild oben: Spatendiagnose – Bio-Landwirt Stefan Schmutz vom Chiemgaukorn-Hof erklärt an diesem kleinen Stück Erde das komplexe System des Bodenlebens, von dem die Fruchtbarkeit abhängt.

 

"Ein fruchtbarer Boden ist unser wichtigstes Kapital."

Auf den Feldern des Bio-Hofs Chiemgaukorn wachsen die Getreidearten Weizen, Roggen, Ur-Dinkel, Braunhirse, Hafer, Einkorn und Emmer. Dabei wechselt der Anbau von Getreide mit dem Anbau von Leguminosen, also Hülsenfrüchten, zum Beispiel Linsen, Erbsen, Bohnen oder Klee, und anderen Fruchtarten wie Lein oder Buchweizen ab. Naturland-Bauer Stefan Schmutz erläuterte seine Anbau-Philosophie: „Wir begreifen den Boden als Organismus und unser wichtigstes Kapital. Das Anbausystem des Chiemgaukorn-Hofs besteht deshalb in einer besonders bodenschonenden Bewirtschaftung durch die Entwicklung von naturnahen Anbausystemen bzw. Pflanzengesellschaften, ähnlich den natürlichen Pflanzenmischungen in Wald und Wiese. Wir setzen außerdem auf Vielfalt - bis zu 20 verschiedene Kulturpflanzen wachsen bei uns auf den Feldern - auf Mischkulturen, ausgewogene Fruchtfolgen, Zwischenfrüchte und Untersaaten und den gezielten Anbau von Leguminosen, um den Boden nicht zu ermüden und natürlicherweise mit allen wichtigen Nährstoffen zu versorgen.“ Die Mehrzahl der Leguminosen gehen in ihren Wurzeln eine Symbiose mit Luftstickstoff fixierenden Bodenbakterien aus der Familie der Knöllchenbakterien ein und stellen den fixierten Stickstoff der nächsten Fruchtart zur Verfügung. Stickstoff ist für das Wachstum von Pflanzen wichtig. Leguminosen tragen so durch die Bereitstellung von organischem Dünger wesentlich zur Fruchtbarkeit des Bodens bei. Chemischer Stickstoff-Dünger hingegen ernährt nur die Nutzpflanze, aber nicht die Bodenorganismen, die für den Aufbau von Humus wichtig sind. Sie verhungern. Die Bodenfruchtbarkeit schwindet allmählich.

Bild oben: Auch im Winter sind die Felder von Stefan Schmutz mit Pflanzen bedeckt. Hier wächst Winterroggen und Klee als Untersaat, im nächsten Jahr wird auf diesem Feld Dinkel angesät.

"Der Linsenanbau in Deutschland ist eine fachliche Herausforderung."

Der Chiemgaukorn-Hof experimentiert seit 2009 mit verschiedenen Linsenarten. „Die Linse ist ein jahrtausendealtes wertvolle Nahrungsmittel, sie liefert wichtiges Eiweiß und passt gut als Ergänzung in unser Getreide- und Öl-Sortiment, das auch auf die menschliche Ernährung zugeschnitten ist. Am besten schmeckt uns selbst die Beluga-Linse, die wir jetzt anbauen. Sie entwickelt beim Garen ein nussiges Aroma, das an Maronen erinnert“, sagt Julia Reimann, Lebenspartnerin von Stefan Schmutz und ebenfalls Diplom-Landwirtin, die für die Vermarktung zuständig ist. Aber die Linse macht es dem Landwirt nicht einfach. „Der Anbau ist eine fachliche Herausforderung“, schreibt das Informationsportal oekolandbau.de - ein Grund, weshalb der Linsenanbau in Deutschland lange Zeit nahezu erloschen war. Sie kann zwar auf Böden mit geringer natürlicher Ertragskraft angebaut werden, ist aber wenig standfest, konkurrenzschwach und ertragsarm.

Stefan Schmutz drückt das so aus: „Die Linse ist ein zartes Wesen. Da sie vor allem bei starken Niederschlägen während der Blüte und Reifezeit leicht umknicken und am feuchten Boden verschimmeln, braucht sie eine andere Pflanze, die sie stützt. Wir haben sie beispielsweise schon im Gemenge mit Sommerweizen, Hafer oder Dinkel angebaut. Das Problem, das daraus entsteht, ist der Erntezeitpunkt. Reifen die Linsen später als die Stützfrucht, können sie zum Beispiel bei Regen in der Hülse bereits wieder zu keimen anfangen.“ Dann sei das Korn unwiderbringlich verloren. Klappe es mit dem Reifezeitpunkt der beiden Feldfruchtarten witterungsmäßig gut, wartet am Ende noch der Mehraufwand bei der Trennung und Reinigung des Ernteguts. Dazu musste ein eigenes technisches System auf dem Hof entwickelt werden.

Eine gesellige und empfindsame Kreatur

Weiterhin sei die Linse – positiv ausgedrückt – eine gesellige und empfindsame Kreatur, sagt Schmutz. „Sie denkt sich: Ich wachse jetzt mal los und wenn jetzt andere Pflanzen – also Unkräuter aus Sicht des Landwirts - neben mir wachsen, ist es für mich auch total in Ordnung. Sie mag nicht alleine sein, nicht unter sich sein. Sie mag die Vielfalt. Das Problem dabei ist, andere Gräser setzen sich gegen sie schnell durch und bei einer feuchten Witterung wie in diesem Jahr, finden wir zum Erntezeitpunkt die Linsen auf dem Feld gar nicht mehr. Die Fläche sah aus wie eine große Wildblumenwiese. Ein Wunder, dass am Ende doch noch ein paar Körner in den Korntank getröpfelt sind. Ich habe nur die Menge geerntet, die ich ausgesät habe. Ein Totalausfall.“ Über die bei den Linsen hervorragend gedeihenden Ackerwildkräuter freuten sich viele blütenbesuchende Insekten, aber der Landwirt habe auf der Fläche dann noch mehrere Jahre mit ihnen zu kämpfen. Sie führen außerdem zu Verlusten bei der Erntemenge, da die Linsenkörner im Mähdrescher an der feuchten Biomasse kleben bleiben.

Bild oben: Kleine Linsenpflänzchen, bald werden sie zwischen den Stützfrüchten und Beikräutern nicht mehr so gut sichtbar sein.

"Wir sehen das gerne wachsen, was wir essen."

Auch wenn laut Schmutz die Ackerbohne ein Kinderspiel wäre im Vergleich zur Linse, möchte er an der Linse festhalten: „Sie ist eine tolle Frucht. Sie schmeckt gut, ist gesund und bringt auch noch etwas für die Bodengesundheit. Wir wollen das anbauen und wachsen sehen, was wir auch selbst essen.“

Bild links: Julia Reimann und Stefan Schmutz, die den Bio-Hof Chiemgaukorn in Oberbayern bewirtschaften.

Arche-Passagier Alblinse

Die Alblinse von der Schwäbischen Alb, Passagier auf der Arche des Geschmacks, einem internationalen Projekt der Slow Food Stiftung für Biodiversität, wurde bei der Veranstaltung ebenfalls vorgestellt und verkostet. Fritz Feger, Mitglied bei Slow Food Tübingen/Neckar-Alb, vertrat die Erzeugergemeinschaft Alb-Leisa. Er sagte: "Dass es 2006 gelang, die seit den 60er-Jahren verschollenen alten Linsensorten Späths I und II in einer Samenbank in St. Petersburg wiederzufinden, und dass diese heute von über 60 Landwirten auf der Schwäbischen Alb wieder angebaut und vermarktet werden, ist eine der schönsten Erfolgsgeschichten – aus kulinarischer Sicht, für die Biodiversität und für die kulturelle Identität der Alb.“

Bild oben: Vier Linsensorten wurden bei der Veranstaltung verkostet: Große Alblinsen (vorne links) und kleine Alblinsen (vorne rechts); Beluga-Linsen (hinten links) und Grüne Linsen vom Chiemgaukorn-Hof (hinten rechts).

"Die Linse ist völkerverbindend." Ein Statement zur Kulturpflanze Linse von Rupert Ebner, Vorstand Slow Food Deutschland:

Ganz allein mag sie es nicht so gerne, und immer am gleich Ort passt ihr auch nicht so. Die Linse lehnt sich am liebsten an andere Pflanzen an, in der Mischkultur mit Getreide dienen die Halme als Stütze für die kleine Hülsenfrucht. Das macht ihre Ernte beschwerlich, da man mühsam die Getreidekörner von den Linsen trennen muss. 

Dazu kommt noch, dass sie am gleichen Standort nur alle vier bis sechs Jahre wieder angebaut werden kann, da sonst Krankheiten den Ertrag erheblich dezimieren. Nicht gerade Eigenschaften, die sie für die moderne, auf Monokultur basierende Landwirtschaft qualifizieren. Dabei ist sie eine der ältesten Kulturpflanzen der Welt, deren Geschichte zurück geht bis vor 7.000 Jahren in die Jungsteinzeit im heutigen Ägypten. In Europa ist sie spätestens seit der Mechanisierungswelle nach dem zweiten Weltkrieg im stetigen Rückgang, dabei wäre sie gerade für die Randlagen der europäischen Landwirtschaft in Mittelgebirgen und Küstenregionen vorzüglich geeignet, da sie trockene und karge Böden liebt und als Winterfrucht auch Temperaturen bis Minus zehn Grad übersteht. Diese kargen Böden hinterlässt sie dann gut durchlockert, und als Leguminose auch noch mit Nährstoffen angereichert, zurück.

Diese Eigenschaften spielt sie weltweit gekonnt aus und wird zwischen den Polarkreisen fast überall kultiviert, unterschiedlichere Klimaten als die Hauptproduktionsländer Kanada, Australien und Indien kann man sich nicht vorstellen. Die kulinarische und kulturelle Bedeutung der Linse ist auch heute noch unbestritten. In Württemberg ist sie in der Dreifaltigkeit mit Spätzle und Saitenwurst der Ausdruck von Regionalstolz, nicht zuletzt da seit einigen Jahren auf der Schwäbischen Alb wieder Linsen angebaut werden. In Indien ist sie als Dal mit Reis die farbenfrohe Grundlage der täglichen Ernährung, in Italien die Grundlage sommerlicher Salate und in der Sterneküche werden Beluga- und Puy-Linsen zu raffinierten Geschmacksträgern verwandelt.

Insofern ist die Linse völkerverbindend. Denn sie ist ein Nahrungsmittel, das nicht nur bei uns eine sehr lange Tradition hat, sondern auch in den Küchen anderer Kulturen dieser Welt, so auch bei vielen Menschen, die zur Zeit bei uns Schutz suchen. Trotz ihrer grazilen Erscheinung und den kleinen Hülsen mit nicht mehr als drei Samen ist die Linse also wichtiger Bestandteil praktischer Agrar- und Esskultur.

Bild oben: Rupert Ebner, Vorstand von Slow Food Deutschland, beim Vortrag im Chiemgaukorn-Bauernhaus (stehend).

Quelle: Pressemeldung von Slow Food Deutschland vom 11. Dezember 2016

Hier der Artikel von der Slow-Food-Seite.
Hier geht´s zu Slow Food und Infos zum Terra-Madre-Tag bei uns.

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